Das Dilemma, in dem die Abgeordneten sich befinden, wird an einem Bild deutlich gemacht: "Im Maßstab der tatsächlichen politischen Macht ist der Bundestag ein winziges Häuschen tief im Schatten der Bürogebäude von Ministerien und Kanzleramt. Hinter diesen erheben sich die Hochhäuser der Wirtschaft." Neskovic ergänzt dieses Bild dahingehend, dass er feststellt, das "HOHE HAUS" existiere eigentlich nur noch als affirmatives Element, als Leerformel, und zwar in "der eingeübten Wortwahl seines Präsidenten".
Einleitend kommt Neskovic auf eine Begebenheit im Bundestag zu sprechen, die sich als Gegenbild zu dem auffassen lässt, was in der Regel im Bundestag abgeht, und zwar auf die Diskussion über die Präimplantationsdiagnostik. Zuvor aber zur Normalsituation: "Abgeordnete der Regierungsfraktionen nehmen Regierungsvorlagen an, Oppositionsabgeordnete lehnen sie ab. Oder umgekehrt." "Gewöhnlich ist es finster bestellt um den bundesdeutschen Parlamentarismus. Die Debatten sind selten fair und meist langweilig. Die Abstimmungsergebnisse stehen schon vor der Debatte fest. Die Bundesregierung gebraucht das Parlament wie eine weisungsunterworfene Gesetzgebungsbehörde. Die ersten Vertreter des Volkes haben nichts zu sagen und müssen doch ständig reden. Sie sind verzwergte Gestalten" - die alles, was ihnen vorgesetzt wird, nur noch abnicken können.
Und hier die vorstehend angesprochene Begebenheit, die sich als so etwas wie eine - auch so bezeichnete - "Sternstunde" des Parlaments begreifen lässt: "Im April war der Bundestag für einen Tag nicht wiederzuerkennen. Man diskutierte, rang eigenständig um politische Lösungen. Die gewohnten Mehrheiten hatten sich aufgelöst, der Fraktionszwang blieb vor der Tür. Die Abgeordneten hörten einander zu und sprachen voller Respekt und ohne Polemik zu ihren politischen Gegnern."
Gegenüber dieser schon fast einmaligen Unverkrampftheit und Offenheit für die Argumente der anderen Seite, die in der PID-Debatte zum Tragen kamen und die eine wirklich gegründete und das Potential hatte, eine nicht nur von oben her bestimmte Entscheidung des Parlaments zu zeitigen, verzeichnet der Autor ein allmähliches Siechtum der parlamentarischen Macht. Die zu einem Gutteil darauf zurückzuführen ist, dass in den Bundesministerien - so jedenfalls die Darstellung Neskovics - "Tausende Köpfe an der zu beschließenden Gesetzlichkeit" tüfteln, während die Abgeordneten so gut wie allein auf weiter Flur dastehen: "In ihren Büros verkämpfen sich drei, vier Mitarbeiter in dem Unterfangen. Welten aus Papier in Entscheidungsvorlagen im DIN-A4-Format zu verwandeln." Der nach Erstellung der Gesetzesvorlagen durch die Ministerien einsetzende parlamentarische Diskurs über die Gesetzgebung unterliegt in den Augen des Journalisten einen "Prinzip, das so einfach ist, dass ihm auch dressierte Meerschweinchen gerecht werden würden", nämlich dem, das sich vorstehend im Zusammenhang mit dem Begriff "Regierungsvorlagen" ausmachen lässt.
Neskovic sieht das Parlament "nur noch [als] ein Gebilde, durch das Regierung muss, wenn sie ihre Gesetze machen will" und stellt dazu fest, dass a) die von Montesquieu 1748 veröffentlichte Schrift "Vom Geist der Gesetze", in der er nach den systematischen Grundlagen einer freien Gesellschaft gesucht habe gerade dem Parlament als eigenständiger Gewalt zugewiesen habe, und dass b) die Regierung eben diese Macht usurpiert habe. Zwar habe anlässlich der Veröffentlichung eines Geheimpapiers aus dem Bundesfinanzministerium zu dem erweiterten Eurorettungsschirm ein "letztes Aufbäumen" im Parlament gegen das fortwährende Übergangenwerden gegeben - dabei habe es sich allerdings nur um eine "Aufstand der Verzwergten" gehandelt.
Als Folge dieser Entwicklung konstatiert Neskovic, dass es letztlich Willkür sei, die bei dem Gesetzgebungsverfahren, so wie es ist, zum Tragen käme. Er verdeutlicht diese Einschätzung an dem von der Regierung verfügten Moratorium in Sachen AKW-Laufzeitverlängerung. "Damit erklärte die Regierung ihren Willen, ein Gesetz nicht ausführen zu wollen, zuu dessen Ausführung sie jedoch verfassungsrechtlich verpflichtet war. Der Verfassungsungehorsam der Regierung wurde von den meisten Medien und der Öffentlichkeit willkommen geheißen. Doch auch gewünschte Willkür bleibt Willkür."
Mit allem Nachdruck erhebt Neskovic die Forderung nach einer Änderung der Spielregeln der Macht, genauer: der Rechtssetzungsmacht. Die ergebe sich einmal aus dem "natürlichen Bestreben der Regierungsgewalt, die eigene Macht zu mehren", dem etwas Fundiertes entgegengesetzt werden müsse. Vor allem aber sei an ihr auszusetzen, dass sich das Parlament als Lobbylandschaft darstelle, in der es zu einer permanent anwachsenden Verflechtung der Exekutive mit bestimmten Interessenvertretern gekommen sei.
In der sich daraus ergebenden Situation könne die Regierung so gut wie uneingeschränkt Gebrauch von ihrem Initiativrecht für Gesetzesvorlagen machen. Dieses Initiativrecht, so Neskovic, müsse der Regierung genommen werden, "um die Ausgewogenheit der Kräfte zwischen den Staatsgewalten wiederherzustellen .... Die legislative Macht muss heimkehren in die Gewalt des Parlaments. ... Der Diskurs würde schrittweise sachlicher und verifizierbar.
Die nach Artikel 38 des Grundgesetzes vorausgesetzte persönliche Verantwortung des Abgeordneten in der politischen Auseinandersetzung würde wichtiger werden, die Einbindung in die Fraktionen an Bedeutung verlieren. Sehr viel mehr Gesetzgebungsvorhaben würden tendenziell zu 'Gewissensentscheidungen', in denen persönlich um die richtige Position gerungen wird. ... Im Ganzen würde die verfassungsrechtliche Idee in der Wirklichkeit gestärkt, wonach Abgeordnete unabhängige Vertreter des ganzen Volkes sind. Das gemeine Wohl fände mehr Beachtung, Partikularinteressen träten zurück. Die Politik könnte wieder an Anerkennung in der Gesellschaft gewinnen."
Wie gut, dass es Leute gibt, die den Mut aufbringen, der Politik solcherlei ins Stammbuch zu schreiben - und dass es Politiker wie Wolfgang Bosbach gibt, der in der Frage Eurorettungsschirm sich nicht von seiner Fraktion vereinnahmen lässt!
Der folgende Zeitungsbericht über die "Mogelpackung Zuschussrente" kommt gerade so recht passend, um das hiermit Thematisierte an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen. Der danach erscheinende Crossing Liner wurde auf den Namen "Meerblick" getauft. Es steht zu wünschen, dass die dieses unser Staatsschiff durch die Fluten steuernde Regierung etwas mehr Blick für die Notwendigkeit entwickelt, ein Revirement ihres Instrumentariums vorzunehmen.
|
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen