Mittwoch, 19. November 2008

103 Dresscode und andere mehr oder weniger verbindliche Vorgaben

Im Post 100 bereits angesprochen: der Dresscode. Zu dem ich hier zunächst einfach mal einige der für mich sprechendsten Passagen aus dem Artikel "Dresscode Kunst - Was man zur Vernissage trägt oder wenn der Sammler zum Frühstück einlädt" zitiere. Verfasst von einem Christian Saehrendt und erschienen in der FAS 46 vom 16.d.Mts.

Eingeleitet wird der Artikel folgendermaßen: "Kunst ist inzwischen so allgegenwärtig, dass niemand vor ihr sicher ist. Ständig gibt es irgendwo die Ausstellungseröffnung eines befreundeten Künstlers. Oder auf Wunsch der Verwandtschaft droht ein sonntäglicher Museumsbesuch. Im Bekanntenkreis mehren sich die Kunstsammler, die ihre Beute im hellen Tageslicht beim Brunch zu präsentieren pflegen, und auch in der Arbeitswelt ist Kunstkontakt unvermeidlich: Mitarbeitschulung im Museum zwecks Stärkung der 'Soft Skills', anschließend Vernissage im Firmenfoyer. Damit stellt sich immer häufiger die Frage: Was zieht man an, um in der Kunstwelt eine gute Figur zu machen?"

Der Autor gelangt im Weiteren etwa zu folgenden Einsichten: "Wer die schwarze Uniform und das grelle Weiß scheut, kann sich mit gedeckten Farben bedeckt halten. Dezente Blautöne strahlen Ruhe, Mäßigung und hanseatische Seriosität aus. Braun wirkt immer noch bodenständig, trotz des zwischenzeitlichen Cordanzug-Revivals in Kreisen urbaner Kreativer. Blaue oder braune Sakkos oder Kostüme kombinieren manche Kunstfreunde mit Goldknöpfen - aber so läuft man eigentlich nur noch in Düsseldorf herum. Vorsicht mit starken Farben! Äußerst ambivalent wirken die Warnfarben Gelb, Orange und Rot, die in der Natur Giftsubstanzen oder Ungenießbarkeit signalisieren. Geschmackvoller ist es, sparsame Farbakzente zu setzen - helle Tupfer in einem Meer von Anthrazit."

Unter der Überschrift "Was trägt die Dame?" heißt es dann weiter: "Diese Anerkennung der Kunstwelt erwerben Sie sich mit Accessoires aus Künstlerhand, etwas mit einer Louis-Vuitton-Handtasche von Takashi Murakami oder Richard Price. Vorsicht vor asiatischen Billigkopien, die zu peinlichen Entlarvungen führen können! Damen, die auf Nummer Sicher gehen wollen, besorgen sich Kollektionen direkt aus Künstlerhand: So werden Sie mit der superfemininen Silhouette eines 'Watteau'-Kleides von Vivienne Westwood garantiert jede Altmeister-Auktion aufmischen. Beim Sommerfest des Kunstvereins erscheinen Sie im Dolce-&-Gabbana-Kleid, das nach Motiven von Julian Schnabel bekleckst wurde. Und für das Opening in einer trendigen Galerie passt ein klassisches schwarzes Fetzenkleid aus Westwoods Edelpunk-Kollektion."

Da ich gerade so schön ins Schreiben gekommen bin - ohne mir dabei meine eigenen Gedanken machen zu müssen -, gleich weiter: "Für die schmale Brieftasche empfiehlt sich eine Damien-Hirst-Jeans von Levi's, schon von 190 Dollar an erhältlich - sieht aber leider nach nichts aus. Wirklich stilvoll wirken dagegen historische Looks aus den zwanziger Jahren oder gar der berühmte Fourties-Hollywood-Glam mit anspruchsvoller Stirnrolle (nur mit schmalem Gesicht und hoher Stirn ratsam, da optischer Verkürzungseffekt). Leider gibt es im Kunstbetrieb wie im normalen Leben kaum Gelegenheiten, derart elegant aufzutreten."

Auch dem angesagten Bedarf für das männliche Gegenstück in der Spezies humana wird Rechnung getragen. Unter der Überschrift "Was trägt der Herr?" heißt es zum im Militärjargon als "Langbinder" begegnenden Ornament für den Mann: "Die Krawatte ist für die meisten Kunstevents zu förmlich und wird nur noch von Lesben und mittelständischen Sponsoren getragen. Donatella Versace empfiehlt wärmstens: 'Männer sollten sich wieder trauen, mehr Schmuck zu tragen.' Übertreiben Sie es dabei nicht: Wenn Sie auf einer Vernissage dauernd auf Ihre 50 000-Euro-Uhr oder auf die Siegelringe angesprochen werden..., haben Sie zu dick aufgetragen".

Abschließend folgendes Statement - unter der Überschrift "Außerhalb der Wertung": "Ständig fürchten wir, over- oder underdressed zu sein. Wahre Größe besteht jedoch darin, jede Art von Dresscode zu ignorieren. In der Regel machen dies aber nur sehr reiche oder sehr alte Menschen oder - Künstler! Sie dürfen alles. Künstler haben selten guten Geschmack - ihr Gefühl für Ästhetik ist bereits mit ihren Kunstwerken erschöpft....Julian Schnabel reüssierte jüngst mit einem violetten Pyjama. Möglich, dass auch er zukunftsweisende Mode macht: von der Erlebnisgesellschaft der Gegenwart zur Schnarchgesellschaft von morgen."

Gerade aus diesem abschließenden Absatz geht für mich hervor - der ich mich der Mühe unterzogen habe, solchen Ausführungen zu folgen -, dass der Autor in einer gewissen ironischen Distanz zu dem ganzen Treiben auf der Modebühne steht: auch die eingangs gestellte Comicfigur legt dies für mich nahe. Andererseits: Er spricht den Leser gezielt an, indem er ihm in der Anrede mit Großbuchstaben kommt. Was wiederum darauf schließen lässt, dass er überwiegend doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit dabei ist, dem Leser wirkliche Hilfestellungen hinsichtlich der Art und Weise dahingehend vermitteln wollend, wie er sich in gehobenem Ambiente zu gerieren hat.

Für unsereiner, der gerade mal den Namen Levi's kennt, ist ein Code, wie er in dem Artikel vorgegeben wird - Nachtigall, ick hör Dir, weil ich auch schon andere Posts gesichtet habe, trapsen! - ausgemachter Schwachsinn. Mit dem man sich halt abgibt, weil man nichts Besseres weiß. Und weil man nichts anzubieten hat, was auf der Bühne des sozialen Geschehens den begehrten Aufmerksamkeitseffekt erzielen könnte. Mehr oder weniger alle machen bei dem Gehampel mit - und freuen sich auch noch darüber, wenn sie mit einem besonders coolen Outfit auftrumpfen können. Mit dem Wort meiner ersten Freundin in Münster, meinem Studienort: "Mistikack!"

Das Blöde an der ganzen Angelegenheit ist, dass Vorgaben, wie sie hier angesprochen worden sind, allüberall in das Leben des Individuums eingreifen: das Savoir-Vivre wird zum entscheidenden Kriterium sozialen Reüssierens. Man will immer möglichst dabei sein - um den Preis eines ganz großen Debakels wie bei der Geschichte mit dem Tausendjährigen Reich, oder aber, heruntertransformiert gesehen, bei dem um Derivate etc. pp. herum veranstalteten Hype.

An einer jedem begegnenden Szene festgemacht: "Hallo - Geht doch!" rief ich vor ein paar Tagen "Rennfahrern" zu, die den breiten und bestens zu befahrenden Radweg zwischen Wennigsen, dem Zentralort der Gemeinde, und Bredenbeck, dem Ortsteil, in dem ich wohne, benutzten. Wann hat man je einen Pulk - oder aber auch einen Einzelfahrer - anderswo als auf der Straße gesehen? Für einen gestandenen "Rennfahrer" gehört es sich einfach, dass er diese benutzt: da kann der Radweg noch so breit sein wie er will! Die - so gut wie verbindliche - Vorgabe: Radfahrer, kommst Du nach Spa - lass Dich dort nur nicht abseits der Straße erblicken! Oder wo auch immer du hinkommst. Bella Figura also auch für den schlichten Freizeitsportler!

Alle Welt verspürt immer wieder einen zumindest sublimen Zwang in sich, bestimmten Codes Folge zu leisten und Vorgaben zu befolgen, die, etwas genauer besehen, eigentlich nur Schietkram sind. Kaum einer bringt den Mut zu einer eigenständigen Bewertung dessen auf, was ihm da abverlangt wird. Wobei ich, horribile dictu, die Frömmigkeitsbezeugungen der Moslems in ihren Moscheen durchaus nicht ausnehme. Wahre Begegnung mit der Transzendenz sieht anders aus, das glaube ich mittlerweile zu wissen.

Fazit

:
Gut, dass ich überhaupt nicht in der Gefahr stehe, mich durch das Tragen einer Krawatte unwissentlich als nur mittelständischer - im Gegensatz wohl zum großständischen - Sponsor zu outen: a) weil auf dem Kornboden auf Warnekes Hof mit seiner Brennerei bei einer hier im Ort veranstalteten Vernissage nicht mit solcher Elle gemessen wird; und b) weil ich, zumindest scherzhaft als "der reichste Mann Bredenbecks" geltend und als solcher im Stehcafé angesprochen, mir das Tragen einer Krawatte durchaus leisten könnte, ohne deswegen gleich zu niedrig eintaxiert zu werden. Und mit dem Lesbentum will es bei den fünf Kindern, die ich Zuhause zähle, auch nicht so recht hinhauen.

Fazit (ernsthaft): Die Unselbständigkeit, die Unfähigkeit, für sich Bewertungen vorzunehmen, dabei nicht zuletzt auf das eigene Bauchgefühl vertrauend, ist so weit verbreitet, dass daraus Systemprofiteure ihren Nektar ziehen können - ohne Ende.





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