Samstag, 13. April 2013

2146 "Gentrifizierung": Ein stadtsoziologisches Schlagwort für eine das Gesellschaftsgefüge bedrohende Entwicklung. Ob in Frankfurt, Berlin oder London - Wohlhabende verdrängen Alteingesessene durch Luxussanierung aus ihren Wohnvierteln.


 
Wieder einmal fügte es sich recht gut, dass, nachdem der Kommentator des Ist-Zustandes der verschiedensten gesellschaftlichen Verhältnisse in der HAZ den hier gleich zweimal erscheinenden, von der Reporterin Nina May verfassten Beitrag gefunden hat, die Redaktion der FAZ in den Ausgaben 84/13 und 89/13 Material anbietet, welches das von der Buchautorin Inger-Maria Mahlke gezeichnete Bild wunderbar ergänzt. Da ein jeder das, was sowohl diese wie auch die Journalistin Melanie Mühl über das fragliche Phänomen auszusangen haben und am Beispiel Berlin-Neukölln resp. Frankfurt-Westend näher erläutern, entweder im Positiv oder aber im Negativ der Digitalisate nachlesen kann, sei hier darauf verzichtet, einzelne Textpassagen zu zitieren. Da der in der FAZ veröffentlichte Artikel wegen seiner Überlänge und seiner zu sehr ins Detail gehenden Darstellung der Gegebenheiten in den beiden unmittelbar an den Olympiapark angrenzenden Londoner Stadtvierteln auch nicht ganz so interessant ist, verhält sich dies bei ihm anders.
 

Auch wenn die weiter unten zu findende Aufnahme eines Straßenzuges in der City von London selbst einigen Raum für sich beansprucht, so ist der begleitende Text doch zu lang, um ihn wie gewohnt zu collagieren und so auf einer DIN A 4-Seite unterzubringen. Überschrieben ist er wie folgt: "Olymp und Hades [.] Nach den Spielen, vor der Zukunft: Im Osten Londons entsteht ein neuer Stadtteil, und zwar mitten im alten Stadtteil. Das ist so spannend wie gewagt, denn der Motor der Veränderung ist der entfesselte Kapitalismus. Eine Besichtigung." Das, was der Autor Oliver Jungen in den gleich anschließenden Absätzen schreibt, verdient hier festgehalten zu werden. Weil es ein schlaglichtartig die Szenerie erhellt, mit der man es in den Großstädten dieser Welt mehr und mehr zu tun bekommt.
"London verarmt, und zwar an seinem Reichtum. Es ist ein dubioser Reichtum, der London nicht gehört. Vielmehr gehört London mehr und mehr diesem Reichtum, auch wenn die Stadt nach neuesten Schätzungen von Oxford-Ökonomen im laufenden Haushaltsjahr zehn Milliarden Pfund Überschuss erwirtschaften dürfte. Die Metropole verkommt dabei zum Finanzplatz. Der 'Shard', der mitten in die Stadt gerammte, durch die Königsfamilie von Qatar finanzierte Glas-Stahl-Riesenzahnstocher Renzo Pianos, ist nur ein weiteres Beispiel für das Aggressive, Austausch- und Abwaschbare internationaler Geldfassaden. Dabei waren Vielfalt und noble Zurückhaltung lange Zeit die Kennzeichen dieser stolzen und doch verschmitzten Weltstadt. Der Autor John Lancester, der mit seinem Roman 'Capital' soeben ein bedrückendes Porträt von Europas Hauptstadt der Gentrifizierung vorgelegt hat, hofft im Namen der Kultur denn auch, so hat er jüngst bekannt, auf das Platzen der Immobilienblase, auf die rettende Verarmung. doch selbst jetzt, mitten in der Finanzkrise, werde die Blase größer und größer, Wohnraum immer unbezahlbarer, denn Londons Betongold locke Kapitalflüchtlinge aller Krisenökonomien an.

Im Zentrum der Stadt fallen diese Milliarden kaum auf. Anders ist es an den Rändern, an denen jene Chancenlosen wohnen, die vor zwei Jahren in einer Anarchieaufwallung massenhaft Geschäfte plünderten. Aufschwung ist in diesen Stadtteilen bitter nötig, aber das Kapital, das hierher fließt, hat einzig Rendite im Sinn - also die Ausweitung des Zentrums. Nirgends trifft das neue London, die Finanzmetropole, so heftig auf das alte London, den abgehalfterten Industriestandort, wie im derzeit angesagtesten Stadtentwicklungsgebiet Newham, einem der ärmsten Bezirke. Die Olympischen Spiele, die hier im vergangenen Sommer stattfanden, waren der Startschuss für einen tiefgreifenden Strukturwandel. Für viele Bewohner klang das immer schon bedrohlich, denn bislang konnten sich auch Durchschnittsverdiener hier noch eine Wohnung leisten. Die Stadt will freilich den Fehler des letzten Großprojekts, der nahe gelegenen Docklands, nicht wiederholen. Der ehemalige Hafen wurde in den achtziger und neunziger Jahren so rücksichtslos in ein Wohn- und Geschäftsviertel umgewandelt, dass wenig attraktive Luxusinseln in einem weiterhin ärmlichen Umfeld entstanden. Erst Jahrzehnte später wurde daraus ein halbwegs lebendiges Viertel."

Gegen Ende seiner Ausführungen kommt der genannte Journalist auf den Stadtteil Stratford zu sprechen, und zwar in dem viert- und dem drittletzten Absatz. Anders als in den beiden einleitenden Absätzen werden dort ganz konkrete Bauobjekte benannt, die typisch für das neue Stadtbild sind. Es heißt in den fraglichen Textpassagen wie folgt: "Die von internationalen Investoren aus dem Bodegestampften Edelbehausungen sind Vorposten, mit denen das ohnehin nicht weit entfernte Neureichen-London in den wilden Osten vordringt. Ein Porsche-Zentrum war schon in den neunziger Jahren vorangestürmt. Mit den Siedlern scheint es noch zu hapern, wie man aus den 'Zu verkaufen'-Schilderwäldern schließen kann. Das ist kein Wunder bei Preisen bis zu mehreren Millionen Pfund für ein Appartement. Nehmen wir nur das preislich noch moderate Icona-Hochahus an der derzeit wenig attraktiven Warton Road: bunte Glasbalkone, integriertes Fitnessstudio, Blick auf den Park und eine abrissreife Fabrikhalle. Eine Siebzig-Quadratmeter-Wohnung kostet hiert trotzdem dreihunderttausend Pfund, umgerechnet 350 000 Euro.

'Das ökonomische und soziale Herausdrängen von Bewohnern mit niedrigem Einkommen findet seit einiger Zeit in Stratford statt. Olympia diente nur als Katalysator und als Entschuldigung, diese Verdrängung noch offener durchzuziehen', sagen die 'Space Hijackers', eine nur als Kollektiv auftretende Gruppe von Aktivisten, die seit Jahren in London gegen die zunehmende Privatisierung öffentlichen Raums protestiert. Während der Olympia-Vorbereitungen haben diese 'Anarchitects' mit kreativen Protestformen wie Hürdenlauf über Absperrgitter für eniges Aufsehen gesorgt. Diesen Kampf gelte es weiterzukämpfen, gerade jetzt, nach Olympia. Das Herauskaufen und Umsiedeln von Bewohnern als Vierteln, die plötzlich zu begehrtem Baugrund geworden seien, gehe nämlich unvermindert weiter. Man müsse sich nur einmal Carpenters Estate ansehen, dann wisse man, worum es gehe."

Oliver Jungen geht gleich anschließend so auf die Verhältnisse in dieser Stadtregion und die Mechanismen und das Procedere bei der Vertreibung der Alteingesessenen aus ihren Stadtquartieren ein: "Diese nicht allzu paradiesische, dabei aber sehr englische Siedlung in gelb-braun-grüner Ziegeloptik liegt in unmittelbarer Nähe zum Oloympiapark. Zum großen Teil handelt es sich um sozialen Wohnungsbau, bis heute im Besitz der Gemeinde, teils aber auch von den Bewohnern erworben. So fürchterlich wie in den Darstellungen der Kummune ('substandard accomodation in deterioration') sieht es hier allerdings nicht aus, eher so wie in den meisten Ecken Englands. Wurde da etwas heruntergewertet, weil es dem großen Profit im Wege stand, wie die Bewohner argwöhnen? Es ist wie die Besichtigung eines Schlachtfelds nach der Schlacht, denn seit dem 25. Oktober 2012 steht fest, dass hier für eine Milliarde Pfund ein neuer Campus des University College London (UCL) entstehen wird, dazu Wohnungen und Geschäfte. Und der Bürgermeister von Newham, Robin Wales, hofft, dass das neue 'High quality'-Viertel Investoren anzieht.

Die Stille in den Straßen mag damit zu tun haben, dass von den knapp 700 Wohneinheiten schon 400 leer stehen. Den Bewohnern werde vergleichbarer oder besserer Wohnraum angeboten, betont die Kommune. Siebzig Prozent der Umgesiedelten leben in unmittelbarer Nähe. Allzu sensibel hat sich die Gemeinde allerdings nicht verhalten. Zunächst war der Beschluss gefasst worden, drei zum Estate gehörende, wahrlich nicht schöne Hochhäuser abzureißen. Alle möglichen Gründe - Asbest, Sicherheit, Kosten - wurden angeführt, um die Bewohner zum Verlassen zu bewegen, nur um dann die oberen Etagen vor und während der Olympischen Spiele an BBC und Al Dschasira zu vermieten, die hier ihre Olympia-Studios einrichteten."

PS: Der Typ, der in dem folgend erscheinenden Cartoon sein Vermögen zur Bank getragen hat und Anstalten trifft, den ihm von dem Bankansgestellten vorgelegten Vertrag zu unterzeichnen, täte besser darain, in renditeträchtige Bauten zu investieren - so, wie von dem Journalisten Oliver Jungen in seiner Story von Newham und Stratford geschildert.

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