Donnerstag, 14. Januar 2016

2487 "Die Giftschränke sind also gut gefüllt. Allein beim WDR sollen darin rund 4000 Sendungen liegen. Auch wenn die Sender von diesem Möbelstück offiziell nichts wissen wollen", schreibt der Journalist Jan Freitag in der heutigen Ausgabe der HAZ. Und führt in gewisser Weise "DIE GROSSE SCHMIDT-DISKUSSION" von BILD fort.



 Der Blogger macht nicht mit bei der großen Schmidt-Diskussion, von der BILD in einer schon längere Zeit zurückliegenden Ausgabe zu berichten weiß.
From: crossbick
Sent: Thursday, January 14, 2016 6:05 PM
Subject: Unter Verschluss

Ein Blick in die Giftschränke des Fernsehens anlässlich der Ausstrahlung eines „Tatorts“ 
Von Jan Freitag

Der Fernsehzuschauer ist ein empfindsames Wesen. Man muss ihn gut unterhalten, aber auch sorgsam behüten. Auf Erschütterungen jeder Art reagiert er sensibel, Sehgewohnheiten sind ihm heilig. Wird daran gerüttelt, droht der Griff zur Fernbedienung. Die Fernsehzuschauerversorger planen daher sehr sorgfältig, was sie ihrem Publikum vorsetzen. Oder auch: vorenthalten.

Einen „Tatort“ zum Beispiel, erstmals im Karneval 1980 gezeigt. Und letztmals. Denn „Der gelbe Unterrock“, hieß es fortan beim damaligen Südwestfunk, genüge nicht den Qualitätsstandards und sei zu brutal, weshalb der dritte Fall von Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller vor 36 Jahren an einem Ort landete, der inoffiziell jeden Funkhauskeller möbliert: im Giftschrank peinlicher, verbotener oder sonst wie unzumutbarer TV-Formate. Ungezeigt, nie wiederholt, auf dem Abstellgleis der Fernsehgeschichte.

Dass die 109. Folge des ARD-Dauerbrenners so lang darin herumlag, hat aber gute Gründe. Die Geschichte eines Frauenmörders mit Kleidertick, der zur Mainzer Fassnacht sein Unwesen treibt, ist nicht nur dramaturgisch holprig und voll logischer Lücken, sondern auch behäbig inszeniert, also: eher öde. Umso erstaunlicher, dass der SWR den fiktionalen Fall von sexualisierter Männergewalt ausgerechnet jetzt wiederholt, da das Rheinland angesichts der Silvestervorfälle am Kölner Hauptbahnhof den närrischen Tagen ängstlicher entgegenblickt als bei jedem herannahenden Schneesturm.

„Der Film ist langsam und nicht gerade actiongeladen“, erklärt SWR-Filmchefin Martina Zöllner die Entscheidung zur Zweitausstrahlung, „verhandelt aber einen psychologisch interessanten Fall“ und sei als „Zeitdokument“ seiner Epoche sehenswert. In der Tat: Von der Ausstattung über die extrem reduzierte Dialogregie bis hin zur Gewaltfrage gewährt der „Tatort“ einen nostalgischen Blick in die Frühzeit des Genres, der umso mehr erstaunt, als die Brutalität darin Jahrzehnte vor Tarantino und schwedischen Krimigemetzeln ziemlich harmlos wirkt.

Heute hingegen reicht selbst das blutige Terrorszenario im „Polizeiruf: Denn sie wissen nicht, was sie tun“ Anfang 2011 oder die düstere Atmosphäre der unaufhaltsamen Hinrichtung von Kölns damaliger „Tatort“-Assistentin Franziska drei Jahre später allenfalls zur Verschiebung der Sendezeit nach 22 Uhr. Damit die Programmverantwortlichen etwas im Zusammenspiel mit Gremien wie dem Jugendschutz oder der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) jedoch mit einem Sperrvermerk kennzeichnen, müssen schon härtere Faktoren hineinspielen – ästhetische, moralische, juristische, vor allem die. Legendär ist hier das ZDF-Dokumentarspiel „Der Soldatenmord von Lebach“, dessen Ausstrahlung ein Tatbeteiligter 1972 aus Gründen verletzter Persönlichkeitsrechte so nachhaltig verhindern konnte, dass Sat.1 eine Neubearbeitung trotz Erlaubnis durchs Bundesverfassungsgericht erst zehn Jahre nach der Fertigstellung 1996 zeigte. Ebenfalls aus Selbstschutz verhinderte Moderator Cherno Jobatey kurze Zeit später die Ausstrahlung einer Folge „Zimmer frei!“, weil Götz Alsmann darin ständig seine Lethargie aufs Korn nahm, während ein hessischer „Tatort“ namens „Der Fall Geisterbahn“ dank ungeklärter Lizenzfragen seit 1972 unter Verschluss ist. Meistens jedoch sind es die Sender selbst, denen das eigene Tun irgendwie unangenehm ist.

Vom halben Dutzend tabuisierter „Tatorte“ etwa liegen drei wegen der Diskriminierung von wahlweise Juden, Aleviten oder Epileptikern auf Eis. Eine Episode von „Raumschiff Enterprise“ wurde als untauglich befunden, da Captain Kirk auf einem Planeten voller Nazis landete. Ein früherer „Derrick“ wurde nach Zuschauerprotesten ins Archiv verbannt, weil darin ein Kind das Mordopfer war. Das reichte 1976 noch zur Selbstzensur.

Auf diesen Begriff wartet man bei den Sendern jedoch vergeblich. Als ein Tsunami 2005 Asien verheerte, hat Pro7 seinen (zuvor gedrehten) Katastrophenfilm gleichen Titels aus Pietätsgründen ebenso verschoben wie RTL infolge der abgestürzten Germanwings-Maschine zuletzt sein Fliegerepos „Starfighter“. Wenn selbst die ARD eine Runde „Hart aber fair“ aus der Mediathek streicht, weil das Gender-Thema darin arg populistisch debattiert wurde, zeigt sich, wie empfindlich Absender und Adressaten beim Thema Zumutbarkeit sind. Die Giftschränke sind also gut gefüllt. Allein beim WDR sollen darin rund 4000 Sendungen liegen. Auch wenn die Sender von diesem Möbelstück offiziell nichts wissen wollen.

Von Samsung-Tablet gesendet


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