Der Blogger macht nicht mit bei der großen Schmidt-Diskussion, von der BILD in einer schon längere Zeit zurückliegenden Ausgabe zu berichten weiß.
Sent: Thursday, January 14, 2016 6:05 PM
Subject: Unter Verschluss
Ein Blick in die Giftschränke des
Fernsehens anlässlich der Ausstrahlung eines „Tatorts“
Von Jan Freitag
Der Fernsehzuschauer ist ein empfindsames Wesen. Man muss ihn gut
unterhalten, aber auch sorgsam behüten. Auf Erschütterungen jeder Art
reagiert er sensibel, Sehgewohnheiten sind ihm heilig. Wird daran gerüttelt,
droht der Griff zur Fernbedienung. Die Fernsehzuschauerversorger planen daher
sehr sorgfältig, was sie ihrem Publikum vorsetzen. Oder auch: vorenthalten.
Einen „Tatort“ zum Beispiel, erstmals im Karneval 1980 gezeigt. Und
letztmals. Denn „Der gelbe Unterrock“, hieß es fortan beim damaligen
Südwestfunk, genüge nicht den Qualitätsstandards und sei zu brutal, weshalb
der dritte Fall von Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller vor 36 Jahren
an einem Ort landete, der inoffiziell jeden Funkhauskeller möbliert: im
Giftschrank peinlicher, verbotener oder sonst wie unzumutbarer TV-Formate.
Ungezeigt, nie wiederholt, auf dem Abstellgleis der Fernsehgeschichte.
Dass die 109. Folge des ARD-Dauerbrenners so lang darin herumlag, hat aber
gute Gründe. Die Geschichte eines Frauenmörders mit Kleidertick, der zur
Mainzer Fassnacht sein Unwesen treibt, ist nicht nur dramaturgisch holprig
und voll logischer Lücken, sondern auch behäbig inszeniert, also: eher öde. Umso
erstaunlicher, dass der SWR den fiktionalen Fall von sexualisierter
Männergewalt ausgerechnet jetzt wiederholt, da das Rheinland angesichts der
Silvestervorfälle am Kölner Hauptbahnhof den närrischen Tagen ängstlicher
entgegenblickt als bei jedem herannahenden Schneesturm.
„Der Film ist langsam und nicht gerade actiongeladen“, erklärt SWR-Filmchefin
Martina Zöllner die Entscheidung zur Zweitausstrahlung, „verhandelt aber
einen psychologisch interessanten Fall“ und sei als „Zeitdokument“ seiner
Epoche sehenswert. In der Tat: Von der Ausstattung über die extrem reduzierte
Dialogregie bis hin zur Gewaltfrage gewährt der „Tatort“ einen nostalgischen
Blick in die Frühzeit des Genres, der umso mehr erstaunt, als die Brutalität
darin Jahrzehnte vor Tarantino und schwedischen Krimigemetzeln ziemlich
harmlos wirkt.
Heute hingegen reicht selbst das blutige Terrorszenario im „Polizeiruf: Denn
sie wissen nicht, was sie tun“ Anfang 2011 oder die düstere Atmosphäre der
unaufhaltsamen Hinrichtung von Kölns damaliger „Tatort“-Assistentin Franziska
drei Jahre später allenfalls zur Verschiebung der Sendezeit nach 22 Uhr.
Damit die Programmverantwortlichen etwas im Zusammenspiel mit Gremien wie dem
Jugendschutz oder der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) jedoch mit
einem Sperrvermerk kennzeichnen, müssen schon härtere Faktoren hineinspielen
– ästhetische, moralische, juristische, vor allem die. Legendär ist hier das
ZDF-Dokumentarspiel „Der Soldatenmord von Lebach“, dessen Ausstrahlung ein
Tatbeteiligter 1972 aus Gründen verletzter Persönlichkeitsrechte so
nachhaltig verhindern konnte, dass Sat.1 eine Neubearbeitung trotz Erlaubnis
durchs Bundesverfassungsgericht erst zehn Jahre nach der Fertigstellung 1996
zeigte. Ebenfalls aus Selbstschutz verhinderte Moderator Cherno Jobatey kurze
Zeit später die Ausstrahlung einer Folge „Zimmer frei!“, weil Götz Alsmann
darin ständig seine Lethargie aufs Korn nahm, während ein hessischer „Tatort“
namens „Der Fall Geisterbahn“ dank ungeklärter Lizenzfragen seit 1972 unter
Verschluss ist. Meistens jedoch sind es die Sender selbst, denen das eigene
Tun irgendwie unangenehm ist.
Vom halben Dutzend tabuisierter „Tatorte“ etwa liegen drei wegen der
Diskriminierung von wahlweise Juden, Aleviten oder Epileptikern auf Eis. Eine
Episode von „Raumschiff Enterprise“ wurde als untauglich befunden, da Captain
Kirk auf einem Planeten voller Nazis landete. Ein früherer „Derrick“ wurde
nach Zuschauerprotesten ins Archiv verbannt, weil darin ein Kind das
Mordopfer war. Das reichte 1976 noch zur Selbstzensur.
Auf diesen Begriff wartet man bei den Sendern jedoch vergeblich. Als ein
Tsunami 2005 Asien verheerte, hat Pro7 seinen (zuvor gedrehten)
Katastrophenfilm gleichen Titels aus Pietätsgründen ebenso verschoben wie RTL
infolge der abgestürzten Germanwings-Maschine zuletzt sein Fliegerepos
„Starfighter“. Wenn selbst die ARD eine Runde „Hart aber fair“ aus der
Mediathek streicht, weil das Gender-Thema darin arg populistisch debattiert
wurde, zeigt sich, wie empfindlich Absender und Adressaten beim Thema
Zumutbarkeit sind. Die Giftschränke sind also gut gefüllt. Allein beim WDR
sollen darin rund 4000 Sendungen liegen. Auch wenn die Sender von diesem
Möbelstück offiziell nichts wissen wollen.
Von Samsung-Tablet gesendet
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